Samstag, 29. März 2014

Patricia Highsmith - Die lieben Schnecken

Für diesen langen Post braucht ihr die Geduld und die Zeit einer Schnecke 
(aber es lohnt sich - versprochen!).

Schließlich sprach die Schnecke.
"Ich habe etwas, das sie mir sicher wegnehmen würden, 
wenn sie könnten. Etwas, das sie mehr begehren als alles andere. 
Ich habe Zeit." (Sufi-Spruch)


Tusche & Aquarell (Ink & Watercolor)


Tja, wir werden alle älter.

Patricia Highsmith hatte selber gemalt und gezeichnet. Sie hinterließ hunderte Aquarelle, Gouachen und sensible, feine Tuschzeichnungen. Sie zeichnete ständig. Sie konnte - wie ich finde - richtig gut zeichnen, hielt aber selber wenig von ihren malerischen Künsten. Erst wenige Wochen vor ihrem Tod überreichte sie ihrem langjährigen Verleger (Diogenes) ihre Mappen und Spiral-Skizzenblocks. Ein lebenslanges, privates Geheimnis. -
Sie überlegte eine zeitlang, ob sie nicht Malerin werden sollte. Sie traf sich lieber mit Malern, Komponisten und Filmemachern, als mit Schriftsteller-Kollegen. 
Ich gäbe was drum, könnte ich ihr meine Portraits von ihr vorlegen. Entweder es gefiele ihr oder sie hätte eine neue Inspiration für den nächsten Psychothriller. 
Wie auch immer, es wäre kein Schaden gewesen!;-)   

"Ich habe große Ehrfurcht vor Malern und Komponisten, weil ich oft denke, 
daß jeder - oder doch fast jeder - eine Kurzgeschichte schreiben kann." (Patricia Highsmith) 


Sie liebte nicht nur Katzen, deren unaufdringliche Gesellschaft sie schätzte, sondern sie mochte auch Schnecken. In New York entdeckte sie auf einem Markt lebende Schnecken, die zum Verzehr angeboten wurden.
Fasziniert beoabachtete sie ein Schneckenpaar beim Liebesspiel. Schnecken machen andauernd Sex und können in zwei Monaten bis zu 200 Eier legen. Dagegen sind Menschen stockprüde - vermutlich weil sie ständig in Hektik sind und unter Strom stehen! -
Sie kaufte es, aß es aber nicht, sondern fing mit dem Paar eine langjährige Schneckenzucht an.
Sie hatte früher neben dem Studium der Englischen Literatur auch Zoologie studiert und kannte sich aus. 

Sie nahm die Schnecken unter dem Pullover mit auf Flugreisen und wurde in London auf einem Presseball mit einer großen Handtasche beobachtet. 
In dieser Handtasche war ein großer Kopfsalat und Schnecken. 
Natürlich finden Biographen und Medien dies ziemlich skurril, ich hingegen finde es einfach nur cool. Mich entzückt es immer, wenn zwischendurch ein paar sog. "Verrückte" die gutbürgerliche Langeweile - oder sollte ich lieber schreiben "die Welt der Erwachsenen" - aufmischen, zumal wenn es auf so eine harmlose Art geschieht. Kinder würde das auch begeistern. Schließlich trug sie keine Kobras oder Klapperschlangen unter dem Pullover, obwohl dies sogar eher zu ihren "Psychothrillern" gepaßt hätte. Vielleicht hätten Biographen und Medien Giftschlangen sogar bevorzugt und dies dann allenfalls als exotisch, aber angemessen empfunden, aber stattdessen nur ein paar harmlose, kleine, schleimige Kriechtiere, soetwas grenzt an einen Skandal!



                                Antwort:
                                Die Schnecke war zuerst da - noch vor den Dinosauriern!!!
                                Das TEMPO hat der Mensch erfunden! Wer sonst!?


Doch so ungefährlich sind die Schnecken auch wieder nicht, auch diese können einen Menschen locker ins Jenseits befördern, vorallem wenn man die Phantasie von Patricia Highsmith hat. 
In ihrer Erzählung "Der Schneckenforscher" passiert es und der Tod ist eklig und grausam, soviel sei versprochen, mehr wird hier nicht verraten. Sie selber hatte zugegeben, "Es reizt mich immer wieder,  fast wehrlosen Tieren die Möglichkeit zu geben, sich für den Sadismus der Menschen zu rächen. "          
Vermutlich würde sich nach dieser Geschichte ein zartbesaiteter Schneckengourmet dieselbigen nicht mehr auf der Zunge zergehen lassen... was ein aktiver Beitrag zum Artenschutz wäre, denn z.B. Weinbergschnecken stehen in Deutschland unter Naturschutz. Sie sind längst vom Aussterben bedroht, weil sie früher massenhaft gesammelt, vermarktet und verspeist wurden.

Letztes Wochenende entdeckte ich zufällig ein Interview von 1974, mit Patricia Highsmith. Es ist ein kleiner Film (2.29 Min), produziert vom Schweizer Fernsehen.  

Patricia Highsmith – ein Leben am menschlichen Abgrund (Link)


Ich "kannte" sie bislang nur von Fotos, Biografien und durch ihre Bücher und trotz ihrer "abgründigen" Erzählungen und teilweise wenig schmeichelhafter Berichte über sie, hatte ich sie gleich gemocht.
In dem Interview-Film wirkt sie auf mich so, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte:                           Alles andere als selbstsicher, eher scheu, angenehm bescheiden und freundlich. Sie spricht hier sogar Deutsch - sie überlegte eine zeitlang sich in Deutschland, Nähe München, niederzulassen, da sie hier viele Freunde und Bekannte hatte - entschied sich dann aber für das Tessin.

Im Interview ist sie sichtbar nervös und klammert sich an ihre Zigarette. Besonders berührt mich, daß sie ihre Katze "Tiger" so hervorhebt. Später reicht man ihr einen Teller "Weinbergschnecken in Kräuterbutter". Man merkt, daß sie geschockt ist, vielleicht sogar angewidert, aber sie bleibt freundlich und erklärt dann ganz ruhig, daß sie keine Schnecken essen würde, aber sie gerne als Haustiere hat. - Wie man behaupten kann, daß sie "misanthrophisch" gewesen wäre, ist für mich nicht nachvollziehbar - schon garnicht nach diesem Interview! -
1988 zog sie nach Tegna (Centovalli), in der Nähe von Locarno (Ascona). Dort bezog sie das nach ihren Ideen gebaute Haus (Link). Das zweite Stockwerk wurde erst nach ihrem Tod (1995) hinzugefügt. 
Davor lebte sie in dem urigen Dorf Aurigeno (Valle Magia). Die Bewohner sollen sie als freundlich, hilfsbereit, aber sehr zurückhaltend beschrieben haben.

Wer es absurd findet, "Schnecken als Haustiere" zu halten, kann mal überlegen, ob es dagegen völlig "normal" ist, exotische Fische im Aquarium oder Schildkröten, Kanarienvögel oder Papageien, Kaninchen, Hamster oder Meerschweinchen im Haus zu halten etc.

Was ist denn "normal"?  Ist die weit verbreitete Fußball-Hysterie "normal"? Ist die Börsen-Zockerei "normal". Sind Kriege "normal"? Ist die Massentierhaltung "normal"? Was ist "normal"? - 
Ich denke das ist alles sehr relativ und oft gilt als "normal", was die Mehrheit der Menschen als "normal" empfindet - ob es nun wirklich "normal" ist oder nicht, wird selten hinterfragt. Meistens ist dies nur eine Frage der Gewohnheit, über die nicht weiter nachgedacht wird. 
Zum gründlichen Nach-Denken nehmen sich die Meisten ohnehin keine Zeit - siehe weiter oben.

"Ich habe allmählich genug von all diesen Leuten, die mir vorwerfen, schreckliche Geschichten zu erfinden. Ich erfinde nichts, ich lese nur die Zeitungen, von der ersten bis zur letzten Zeile.  
Sie inspirieren mich. In ihnen können sie eine Menge täglicher Grausamkeiten finden. 
Eine Zeitung ist eine Anthologie grausamer Geschichten."  (Patricia Highsmith).  

Im Grunde soll doch jeder seinen individuellen Interessen und Vergnügungen nachgehen, solange er niemandem schadet - und Patricia Highsmith hatte ganz sicher niemanden mit ihren Schnecken geschadet - und den Schnecken selber auch nicht, denn sie hatte sie nicht mal gegessen.- 
Aber eine grundlegende, philosophische Frage darüber angeregt, was denn "normal" sei!;-)     

Sie macht klar, warum sie von Schnecken so fasziniert ist:
"Sie dauern immer... und sie haben nie gewechselt... seit Millionen von Jahren"  und sie halten Hunger und Trockenheit aus  "...und ich glaube... sie dauern immer, auch wenn Menschen vielleicht nicht mehr hier sind...". Es gab sie schon vor den Dinosauriern.


Als kleiner Junge haben mich Weinbergschnecken immer fasziniert. Ich freute mich, 
wenn ich eine gefunden hatte. Inzwischen ist diese alte Begeisterung neu aufgekeimt -
Danke, Patricia Highsmith - ich bin sehr inspiriert...;-) 

Doch wo bekomme ich jetzt ein lebendiges Weinbergschneckenpärchen her?
Schnecken sind Zwitter. Sie sind männlich&weiblich. Aber zum Sex müssen sie dennoch zu Zweit sein. Ein Pärchen draussen aufzusammeln, ist wegen des Artenschutzes nicht erlaubt. 
Sie massenhaft zu züchten, schließlich bei lebendigem Leibe in den Kochtopf zu schmeissen und "eingedost" zu vermarkten, hingegen schon.
Aber auch auf die Gefahr hin, für völlig skurril oder "nicht-normal" gehalten zu werden, 
bevorzuge ich lebendige Schnecken, statt "Schnecken in der Dose"!


Wer den "Schneckenforscher" vorgelesen bekommen möchte (13 Min.) 
wird --> hier fündig  (auf der Website unten links): 
Man benötigt noch eine Schneckengabel. Dazu empfehle ich ein Baguette, einen kühlen Pinot Blanc oder temperierten Portwein. Wer möchte, kann die Schnecken aber auch als Dessert mit Schokoladensoße (wie auf der Schwäbischen Alb erhältlich) genießen - Bon Appétit! ;-)   



Wer allerdings die Schönheit der Weinbergschnecken neu entdecken möchte, sollte sich das -->
"Schneckenbilderbuch - Die Entdeckung der Behutsamkeit"(Link) anschauen. 

Dazu dieser Klappentext:

"Millionen von Weinbergschnecken werden jährlich bei lebendigem Leibe gekocht, um »Feinschmeckern« einen Gaumenkitzel zu bescheren. Ein Rentner-Paar hat es sich zur Aufgabe gemacht, gegen diese Unsitte zu kämpfen. Sie haben das »snailwatching« erfunden und verbreiten das nötige Wissen übers Internet und nun auch in diesem Buch. Dabei haben sie festgestellt, dass sie nicht alleine sind. Aus Kindergärten und Schulen kommen Anfragen.  Weinbergschnecken sind die einzigen Wildtiere, die man einige Monate in einem Terrarium halten und danach unbeschadet wieder in der Natur freilassen kann. Das faszinierende Liebesspiel, die Eiablage und das Schlüpfen der Jungschnecken wird zu einem prägenden Erlebnis. Kinder lernen den behutsamen Umgang mit Lebewesen, die sie früher kaum beachteten. Warnung: Dieses Buch kann Ihr Leben verändern.  
Die Entdeckung der Behutsamkeit ist das Gebot der Stunde!"



In freier Natur werden Weinbergschnecken durchschnittlich 8 Jahre alt. Im Haus können sie bei guter Pflege durchaus 20 Jahre alt werden - die Süßen könnten also mit mir alt werden!;-) 
In den zwei großen Fühlern sind die Augen. 


Tusche & Aquarell (Ink & Watercolor)




Schnecken ziehen sich bei Gefahr zum Schutz in ihr Haus zurück. Dadurch ist der Siedetod länger und grausamer.

Eine "ökologisch-sanfte" Tötungsmethode ist es, sie während des Winterschlafs in den Kochtopf zu werfen. Wie heimtückisch!
Ich würde zwar selber gerne im Schlaf sterben, aber auf natürliche Art. An meine Ermordung denke ich dabei nicht, auch nicht wenn sie "voll-ökologisch" wäre. Nein Danke!

Wer will denn behaupten, daß der Mensch was "besseres" sei, als eine Schnecke, daß er sich diese "Lizenz zum Töten" herausnimmt - und dies nicht mal aus Notwehr oder aus Hungersnot?

Bezogen auf die Jahrmillionen alte Existenz der Schnecke auf diesem Planeten - ein Paradebeispiel für Überlebenskunst - wäre etwas mehr menschliche Demut sehr angebracht, zumal der Mensch diesbezüglich wirklich ein Stümper ist!  

Weinbergschnecken stehen auf der
"Roten Liste gefährderter Arten" - die massenhafte Vermarktung und Verspeisung, durch Schneckenzuchtbetriebe (seien sie ökologisch oder nicht-ökologisch) ist aber erlaubt.

Ist das "normal"?
Jaahaaaa! Es ist der ganz normale, alltägliche Wahnsinn,

"rationaler" und gesetzestreuer Menschen!   

Das Böse schleicht sich beinah unbemerkt in den Alltag.
Literarisch-künstlerisch verdichtet in Patricia Highsmith' 
Romanen und Erzählungen. 
Sie erkannte den Abgrund in der Normalität.





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